


Versailles – Larger than life
Ein Renaissance-Porträt galt als gelungen, wenn eine dargestellte Person nicht nur anhand ihrer äußeren Züge wieder zu erkennen war, sondern auch, wenn es der Porträtmaler fertig brachte, mit seinem Pinsel die „Persona“, also die Persönlichkeit des Porträtierten, zu erfassen. Eine ganz ähnliche Herausforderung stellt sich der Architekturfotografie, geht es doch darum, die individuelle Ausstrahlung eines Gebäudes, sei es sein Inneres oder sein Äußeres auf dem Fotopapier zu fixieren. Dazu braucht es den Blick des Fotografen, der die architektonischen Formen wie die Gesichtszüge eines Porträtierten zu erkunden weiß. Sind diese Formen auch nicht mit menschlichen Maßstäben messbar, geht es doch immer um ein Raumgefühl, das es dem Betrachter ermöglicht, mit der Architektur in Verbindung zu treten. Reinhard Görners Fotografien der Prunksäle des Schlosses von Versailles versuchen nicht bloß die barocken Räume in ihrem Detailreichtum zu erfassen, sie lassen den Ort zum Betrachter sprechen. Unter Verzicht von verzerrenden Weitwinkel-Objektiven setzt Görner mit seiner Großbildkamera die überdimensionalen Säle in Szene, als seien es Charakterstudien. Behutsam beschneiden die Bildränder die Rundbögen und Kassettendecken, die sich über dem Auge des Betrachters fortzusetzen scheinen. Gerade die Auswahl des Bildausschnitts setzt die individuelle Kraft der Orte frei. Für den Betrachter sind diese Säle Versailles‘ beides: weitläufig und nah zugleich. Der Blick kann schweifen oder an Details verweilen, die Präsenz der Räume ist dabei stets Teil des individuellen Sehgenusses. Bisweilen öffnen die Fotografien ein Tor zu einer anderen Welt und nehmen den Betrachter mit auf eine Zeitreise. Das Schloss ist hier nicht mehr Museum, sondern königliche Residenz und geschichtsträchtiger Ort. Der Betrachter muss die Säle nicht mit Besuchermassen teilen, ihm bieten sich exklusive Eindrücke des Spiegelsaals (Galerie des Glaces) und der Schlachtengalerie (Galerie des Batailles), wie sie vermutlich nicht einmal den Königen Frankreichs vergönnt waren. Die Säle sind leer, jedoch scheint sich so deren individueller Charakter auf besondere Weise entfalten zu können. Zu dem in den Fotografien festgehaltenem Erscheinungsbild gehört auch, dass diese Orte Geschichte atmen. Im Spiegelsaal wurde König Wilhelm von Preußen zum deutschen Kaiser Wilhelm I. ernannt, nachdem Frankreich im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 besiegt wurde. Auch der Versailler Friedensertrag wurde dort nach dem ersten Weltkrieg unterzeichnet. Und so haben diese Architekturfotografien der Prachtsäle Versailles‘ einem Renaissance-Gemälde etwas voraus: Hier kann im Betrachter ein Gefühl der Weltgeschichte entstehen, die bis heute fortwirkt.
Translation into English:
Versailles – Larger than life
A Renaissance portrait was considered successful if the person portrayed could be recognized not only by his or her external features, but also if the portrait painter managed to capture the “persona,” or personality, of the sitter with his or her brush. Architectural photography faces a very similar challenge, since it is a matter of fixing the individual charisma of a building, be it its interior or its exterior, on the photographic paper. This requires the photographer’s eye, which knows how to explore the architectural forms like the facial features of a sitter. Even if these forms cannot be measured by human standards, it is always a matter of a sense of space that enables the viewer to enter into a connection with the architecture. Reinhard Görner’s photographs of the state rooms of the Palace of Versailles do not merely attempt to capture the baroque rooms in their rich detail; they let the place speak to the viewer. Avoiding distorting wide-angle lenses, Görner uses his large-format camera to stage the oversized halls as if they were character studies. Carefully, the edges of the image crop the round arches and coffered ceilings that seem to continue above the viewer’s eye. It is precisely the choice of image detail that releases the individual power of the places. For the viewer, these halls of Versailles are both expansive and close at the same time. The gaze can wander or linger on details, the presence of the rooms always part of the individual viewing pleasure. At times, the photographs open a door to another world and take the viewer on a journey through time. Here, the palace is no longer a museum, but a royal residence and a place steeped in history. The viewer does not have to share the halls with crowds of visitors; he is offered exclusive impressions of the Hall of Mirrors (Galerie des Glaces) and the Battle Gallery (Galerie des Batailles), which probably not even the kings of France were granted. The halls are empty, but their individual character seems to unfold in a special way. Part of the appearance captured in the photographs is that these places breathe history. In the Hall of Mirrors, King William of Prussia was proclaimed German Emperor William I after France was defeated in the Franco-Prussian War of 1870/71. The Treaty of Versailles was also signed there after World War I. And so these architectural photographs of Versailles’ sumptuous halls have something in common with a Renaissance painting: Here, a sense of world history can arise in the viewer that continues to have an effect today.
+++